Düfte als auch Geschmäcker lösen starke Emotionen aus und rütteln Erinnerungen aus längst vergessenen Tagen wach. Vor allem Gerüche sind im Gehirn eng mit Emotionen verbandelt. Warum ist das so? Eine emotionale Reise in die Vergangenheit.
Regelmässig höre ich von Kunden Aussagen wie «dein Aufstrich schmeckt wie jener meiner seligen Mutter», «du machst Quittenbrot wie meine spanische Grossmutter» oder «dein Kräutersalz erinnert mich an meine ersten Ferien in Frankreich». Jetzt könnte man einwenden, dass dies ja logisch sei, produziere ich doch Hausgemachtes nach alten Rezepten und auf traditionelle Weise. Doch so trivial funktionieren wir Menschen – zum Glück – nicht, denn unser Gefühlsleben ist eine zu komplexe Angelegenheit der Evolution. Wir alle kennen das erfüllende Gefühl, das uns durchströmt, wenn uns Düfte oder Geschmäcker in alte, scheinbar verlorene Zeiten zurückkatapultieren und eine Renaissance erfahren. Wenn beispielsweise eine bestimmte Sonnencreme unsere ersten Ferien am Meer wieder aufleben lässt. Wundervollen Momente, an die wir uns aktiv nicht mehr erinnern, sondern eben erst durch dieses sensorische Zurückwerfen in eine alte und zugleich wieder lebendig gewordene Erinnerung. Ob uns dabei eine Person, ein Ort, ein Ereignis oder alles gleichzeitig in den Sinn kommt, hängt damit zusammen, wie wir den Duft oder Geschmack subjektiv erfahren haben – und weiterhin erfahren. Auch andere Reize wie Geräusche können Erinnerungen wecken, und trotzdem heben sich der olfaktorische als auch der gustatorische Sinn von den anderen ab, allem voran das Riechen. Denn der Geruchssinn ist der entwicklungsgeschichtlich älteste des Menschen.
Zu einem lange zurückliegenden Zeitpunkt in unserem Leben haben wir einen Duft oder Geschmack das erste Mal wahrgenommen, ihn unbewusst analysiert und als gefährlich oder ungefährlich kategorisiert, mit einem Ort, Erlebnis oder einer Situation verknüpft und schliesslich als positiv oder negativ memorisiert. Im Gegensatz zu übelriechenden Pflanzen haben es beispielsweise Rosen oder Lavendel mit ihrem lieblichen Duft leicht, als angenehm oder erfreulich gewertet zu werden – was jedoch nicht bedeutet, dass sie nicht auch negativ behaftet sein können. Je nachdem eben, ob man sie mit guten oder schlechten Erfahrungen assoziiert. Interessanterweise reichen durch Düfte hervorgerufenen Erinnerungen nachweislich unglaublich weit zurück. Darüber hinaus sind die Erinnerungen intensiver und viel positiver. Ein Blick ins Gehirn verrät uns das Geheimnis dahinter.
Das Wunder Gehirn
Riechen und Schmecken gehören neben Sehen, Hören und Tasten zu den fünf Sinnen, mit denen ein Mensch seine Umwelt ermittelt. Die Sinnesorgane Nase, Zunge, Augen, Ohren und Haut nehmen die Reize des Umfelds auf und geben sie an bestimmte Hirnregionen weiter. Anders als das Sehen, Hören, Tasten und Schmecken umgeht der Geruchssinn den Thalamus und erreicht auf direktem Weg die mächtige Amygdala, auch Mandelkernkomplex genannt. Dort findet die primäre Wahrnehmung eines Geruchs statt. Die Amygdala als Teil des limbischen Systems ist für Emotionen und den Antrieb (Triebverhalten) bzw. die inneren Motive zuständig als auch an Lernprozessen beteiligt, während unsere Entscheide massgeblich vom limbischen System beeinflusst werden. Deshalb sind Gerüche stets emotional besetzt.
Nachfolgend wird der benachbarte Hippocampus aktiviert. Dort verarbeitet das Gehirn Erlebnisse und formt Erinnerungen. Erinnerungen entstehen vor allem dann, wenn Gefühle wie Geborgenheit und Freude angeregt werden, denn unser nach Bedürfnisbefriedigung orientiertes Gehirn beurteilt Gerüche zunächst danach. Erst macht sich also das Glücksgefühl breit und daraufhin folgt die Erinnerung. In dem Augenblick, da das Gehirn Emotionen und Erinnerung zusammenbringt, entsteht ein lebendiger Gesamteindruck wie zu Beginn beschrieben: jener der ersten Frankreich-Ferien oder von Grossmutters Quittenbrot. Düfte und Gerüche erhalten eine Seele, Verstorbene werden wieder lebendig und längst vergessene Orte oder Geschichten blühen wieder auf.
Dass das Riechen und Schmecken unser Überleben sichern, ist naheliegend und schlüssig, wenn auch noch nicht endgültig bestätigt. Denn für das anpassungsfähigste Wesen Mensch ist diese Erklärung allein zu trivial. Forscher rätseln daher noch heute, wie weitreichend die Sonderrolle dieser zwei Sinne tatsächlich ist. Schliesslich wissen wir: Die Evolution denkt für uns. Beim wahrsten Sinn, und dies mit grosser Wahrscheinlichkeit viel mehr als wir bisher dachten. Doch was das reine Überleben betrifft, halten uns Gerüche und Geschmack sicherlich vor gefährlichen Situationen oder Vergiftungen fern, denn das Riechen und Schmecken dienen der Identifikation, Erkennung und Beurteilung von Gefahren (wie bei Rauch, Gas oder Verbranntem) sowie gesundheitsschädlicher Lebensmittel. Darüber hinaus haben unangenehme Gerüche und Geschmäcker andere, kurzfristigere Folgen. Wenn immer sie zum Beispiel unser Brechzentrum aktivieren, retten sie uns möglicherweise damit das Leben.
Der genussorientierte Mensch
Wenig verwunderlich, dass der Mensch nicht nur überleben, sondern auch geniessen will. Deshalb ist er ein ewig Suchender nach Wohlbefinden und dabei genussorientiert. Um also zu überleben und zu geniessen, braucht es sowohl den Geruchs- als auch den Geschmackssinn. Nicht umsonst kann unsere Nase mit ihren 350 Rezeptortypen und 20 Millionen Riechzellen Tausende Gerüche unterscheiden. Genuss bedeutet denn auch, positive Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. Im Vergleich dazu wirkt der Geschmackssinn bescheiden, denn nach heutigem Wissensstand können unsere Mundschleimhautrezeptoren gerade mal fünf Geschmacksrichtungen identifizieren. Und trotzdem ist er keinesfalls zu unterschätzen.
Die menschlichen Grundgeschmacksarten
Der Mensch kennt die Grundgeschmacksarten süss, salzig, sauer, bitter und «umami». Forscher vermuten zudem eine sechste Geschmacksqualität: fettig. Ihnen allen ist gemein, dass sie auf den Bausteinen des Lebens basieren und folglich überlebensnotwendig sind. «Süss» zum Beispiel deutet darauf hin, dass das Lebensmittel kalorien- bzw. kohlenhydratreich ist, denn Zucker ist ein begehrter Brennstoff, den unser Organismus permanent benötigt. «Salziges» in Massen regelt all unsere Stoffwechselprozesse und bewahrt uns vor Mangelerscheinungen in Form von zum Beispiel Muskelkrämpfen. Die konnten wir uns früher schlicht nicht leisten. «Saures» gibt uns Unreife an und teilt uns ferner mit, dass das Lebensmittel ungeniessbar und unbekömmlich ist, so dass wir die Finger davon lassen oder nur eine kleine, verträgliche Menge aufnehmen. «Bitteres» dagegen löst die Warnung «Achtung, könnte giftig sein!» aus, weil sich toxische Pflanzen und Früchte in der Natur weitgehend durch Bitterkeit äussern (vor allem im Kindesalter sind wir hochsensibel auf Bitteres). «Umami» wiederum ist gar nicht so neu, wie man meinen könnte. Diese Geschmacksrichtung wurde bereits 1908 vom japanischen Forscher Kikunae Ikeda als eigenständige Geschmacksqualität identifiziert. Ausgelöst durch Proteine, signalisiert uns «umami», dass es sich um eiweissreiche Nahrung handelt, weshalb der Begriff mit fleischig, pilzig oder herzhaft übersetzt wird. Eiweisse sind für alle uns bekannten Lebensformen elementar. Sie sind das Baumaterial für Muskeln, Organe und Blut, unabdingbar zur Immunabwehr und überdies Ersatzlieferanten bei einem Mangel an anderen Energielieferanten wie Kohlenhydrate bzw. Zucker – oder das von der Forschung noch nicht abschliessend erforschte Fett.
Die oben genannten Arten werden nie isoliert erfasst, sondern stets als Sinfonie. So entsteht eine Vielzahl an Geschmacksvarianten, die ganze Welten erschaffen. Zusätzlich beeinflusst von Aromen, Textur und Temperatur sowie geprägt von persönlichen Vorlieben. Diesem Geschmackserlebnis ist es schliesslich zu verdanken, dass wir einen Eintopf nicht nur als süss, scharf oder würzig beurteilen können, sondern als zum Beispiel authentisches «Thai Curry».
Was genau sind Erinnerungen eigentlich?
Eine Erinnerung ist ein wieder lebendig werdendes Erlebnis – oder anders formuliert: das mentale Wiedererleben früherer Erfahrungen. Erinnerungen werden über verschiedene Sinne wieder ins Leben gerufen und sind folglich multisensorisch. Vor allem Gerüche sind für das Erinnerungsvermögen zentral. Denn interessanterweise gelingt es dem Menschen gar nicht so gut, sich spontan an Dinge zu erinnern, die viele Jahre zurückliegen. Häufig werden spontane Erinnerungen tatsächlich erst dann ausgelöst, wenn ein Gefühl, Gedanke oder Sinneseindruck mit Assoziationen belegt ist.
Wenn vor allem Gerüche für das Erinnerungsvermögen zentral sind, taucht sofort die neugierige Frage auf, wie eine durch einen Duft besetzte Erinnerung überhaupt entsteht? Es ist im Grunde ganz einfach: Wenn wir das erste Mal etwas riechen, was wir noch nie gerochen haben, spricht man von einer unbesetzten Erinnerung, zu Englisch «Memory String». Wenn uns nun jemand währenddessen eine schöne Geschichte erzählt, die uns ein wohliges Gefühl gibt, werden wir exakt dieses Gefühl jedes Mal wiedererleben, wenn wir den betreffenden Geruch wahrnehmen. Der Memory String ist nun besetzt. Der Geruchssinn kann demzufolge nicht nur tief emotionale und körperliche Reaktionen hervorrufen, sondern sich auch an sie erinnern und wieder erzeugen. Diese Verbindung macht den Geruchssinn so einzigartig.
Erinnerung ist grundlegend für die Identität und das gesamte Leben eines Einzelnen. Und nicht nur: Auch für die Gesellschaft und ihr sogenanntes soziales bzw. kollektives Gedächtnis ist Erinnerung signifikant. Sie beruht auf bedeutsame, gemeinsam erlebte – sowie positiv oder negativ gewertete – Ereignisse, Geschichten, Vorstellungen, Interessen, Riten und Praktiken und vielem mehr, und bildet die kulturellen Voraussetzungen für das soziale Leben. Der historische Austausch von Ideen und Werten findet immer zwischen Einzelpersonen und einer Gruppe, einem Kollektiv, statt. Jeder Einzelne ist mit seinen Erinnerungen also auch Teil einer Gemeinschaft oder Gesellschaft und ihrer Erinnerung. So spielt sich Erinnerung einerseits individuell auf die eigene Vergangenheit bezogen ab, und andererseits auf das gesellschaftliche Gedächtnis. Das kollektive Erinnerungsvermögen dient der Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsgestaltung zugleich.
Wechselwirkung
Der Mensch ist deshalb das anpassungsfähigste Wesen unserer Erde, weil sein Gehirn in der Lage ist, wechselseitig zu lernen. Das heisst, unser Gehirn bestimmt, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen und auf sie reagieren. Gleichzeitig formt unsere Umwelt unser Gehirn. Denn jedes Mal, wenn es eine Information verarbeitet, verändert es sich ein bisschen, indem es Nervenzellen neu oder anders verknüpft. Dabei baut es das neuronale Netz weiter aus. Wenn immer wir also etwas lernen, wird dieses Netz grösser und dichter. Übrigens, jeder Mensch hat eine einzigartige Gehirnstruktur.
Erinnerungen sind also das, was wir aus ihnen machen. Da unser Erinnerungsbild jedoch ständiger Änderung unterworfen ist, weil wir seinen Inhalt laufend verändern und verfälschen, können wir uns auch nicht allzu sehr darauf verlassen. Ähnlich gelagerte Erinnerungen können durch andere ersetzt, geändert oder überlagert werden. Deshalb verschmelzen häufig und ähnlich erlebte Ereignisse mit der Zeit zu einem mentalen Schema und lassen sich dann oft nicht mehr als einzelne Erinnerung abrufen. Beim Erinnern handelt es sich folglich nicht um ein Abrufen wirklichkeitsgetreuer Bilder, sondern um einen aktiven Prozess des sich immer wieder neu Rekonstruierens. So können wir zum Beispiel bestimmte Kindheitserinnerungen als Erwachsene anders wahrnehmen, wenn wir einen Roman lesen, der von einem fiktiven Kind handelt. Oder wenn wir heute einen Löffel hausgemachte Zwetschgenkonfitüre schlecken, deren Duft und Geschmack uns augenblicklich in ein Kind zurückverwandelt und retour in Grossmutters Küche schleudert. Heute ist man vielleicht selbst die Herstellerin dieses Erbrezepts und weiss, wie viel Arbeit, Liebe und Erinnerung drinsteckt und was es bedeutet, seinem eigenen Kind einen Löffel zum Schlecken in die Hand zu drücken. So wie es einst die Grossmutter mit uns tat. In diesem Sinne werden Erinnerungen neu geschrieben.
Hier schliesst sich der Kreis: Düfte und Geschmäcker holen sowohl Emotionen als auch Informationen aus dem Unterbewusstsein wieder in das Bewusstsein zurück. Sie schenken uns in Vergessenheit geratene Erinnerungen, die geprägt sind von den intimsten Gefühlen. Sie sind gesellschaftlich basal, erschaffen ganze Kulturen. So sind sie immer auch ein Stück Sehnsucht, Nostalgie oder Fernweh. Im Besonderen stellen sie eine tiefe Verbindung zu den eigenen Wurzeln und der Heimat her.
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